Die kreative Seite der Yogaübungen

Yogaübungen inhaltlich gestalten

Yogaübungen sind heute sehr bekannt, beliebt und modern. Es gibt viele Kurse mit verschiedensten Schwerpunkten, wobei insbesondere der gesundheitsfördernde Wert der Yogaübungen angepriesen und geschätzt wird.

Unabhängig von den bekannten positiven Seiten der Yogapraxis möchte ich einen etwas ungewöhnlichen Blick auf die Übungen eröffnen, und zwar auf ihren „kreativen“ Wert und welche große Bedeutung dabei ein „Inhalt“ einnimmt.

Das Wort kreativ stammt von dem lateinischen Wort creare und bedeutet etwas erschaffen, gestalten, schöpferisch tätig sein. In der Yogaübung kann der Übende kreativ tätig werden, indem er eine Körperform und einen speziellen Ausdruck erschafft und gestaltet. In dieser kreativen, gestaltenden, schöpferischen Aktivität liegt ein großer Wert für den Menschen in seinen vielschichtigen Zusammenhängen. Wenn der Mensch etwas bewusst ausgestaltet, aus einer Idee eine sichtbare Form kreiert, dann wird er seelisch aktiv und regsam, was ihm rückwirkend als aufbauende Kraft wieder entgegenkommt und sein Gedanken- und Empfindungsleben bereichert

Wenn jemand beispielsweise eine bestimmte Pflanze zeichnen möchte und sie so lange ansieht und studiert, bis er ihr charakteristisches Aussehen und Wesen immer mehr wahrnehmen, erkennen und schließlich zu Papier bringen kann, erfordert dies eine große Aufmerksamkeit, differenzierte Wahrnehmung, wiederholtes Hinschauen, gute Vorstellungskraft und Einfühlungsvermögen sowie Geduld, Ausdauer und Übung.

Der Zeichner bemerkt schließlich, wie er durch die intensive Hinwendung an die Pflanze diese, die ihm zuvor eher fremd war, nun besser kennengelernt hat. Er hat etwas Neues erarbeitet, eine Beziehung hergestellt und in Form der Zeichnung schließlich durch die eigene Aktivität in einen Ausdruck geführt. Er kann nun erleben, dass er durch seine Hinwendung um neue Wahrnehmungen und Empfindungen reicher geworden ist.

In der Yogapraxis, wie ich sie kennengelernt habe und in den Yogakursen anwende, ist es ähnlich: Man übt, studiert die Übung, ihre Bewegungsform, ihre spezifischen Eigenschaften und ihre seelische Bedeutung, wendet sich immer wieder aufs Neue hin und bringt nach und nach diese Körperform und ihren entsprechenden Ausdruck immer mehr hervor.

Die Yogaübung bleibt dabei nicht einfach nur eine Übung, mit der man bestimmte Körperzonen durcharbeitet, wie zB die Bauchmuskeln oder die Beine, oder mit der man in eine Ruhe eintaucht oder einen speziellen Energiefluss aktiviert, sondern sie ist eine Möglichkeit, bei der man kreativ, also gestaltend aktiv werden und sich auch seiner eigenen kreativen Kraft bewusst werden kann. Dies wirkt weiter auf das alltägliche Leben, weil man entdeckt, dass man auch im Leben alles viel tiefgründiger erforschen und dann auch selbstaktiver gestalten und ausformen kann. Man lernt kennen, dass die Kraft etwas zu gestalten freier macht von Gewohnheiten und festgefahrenen Strukturen, von Erwartungen oder manipulativen Einflüssen.

Schließlich entdeckt man den Wert von Inhalten, denn ohne Inhalt und klare Idee bleibt das Tun wie leer. Was, welche Idee möchte man ausgestalten? – Diese Frage stellt sich unmittelbar. Das Wort „Inhalt“ drückt dies unmittelbar aus. Der Inhalt füllt die äußere Form. Aus dem Inhalt entsteht eine inhaltsreiche Auseinandersetzung und ein ausdrucksvolles Ergebnis. Man geht dabei idealerweise gezielt nicht von seinen bisher angesammelten, vertrauten Gedankengängen aus, sondern wählt objektive Inhalte, die man sich wie neu vor die Seele rückt und die ein Lernen ermöglichen.

Zur inhaltlichen Anregung braucht man gute Texte, die sinnvoll bzw. sogar weisheitsvoll und universal gültig sind, denn damit kann sich die Vorstellung zur Yogaübung konzentrierter aufbauen. Der Blick kann auf die wesentlichen Zusammenhänge aufmerksam werden und verliert sich nicht in Fantasien oder im Subjektiven. Die Bezeichnung „universal gültig“ kann man so verstehen, dass die Inhalte sowohl eine der Yogaübung inneliegende Logik als auch eine Gesetzmäßigkeit des Lebens beschreiben.
In ihrer Art inhaltlichen Ausarbeitung hervorragend und einzigartig sind in dieser Hinsicht die Beschreibungen von Heinz Grill (z.B. Die Seelendimension des Yoga oder Der Freie Atem). Diese Inhalte führen zu einem sehr harmonischen und ästhetischen Ausdruck der Übung, einer Ordnung im Seelenleben und Anregung des Entwicklungspotenzials. Heinz Grill hat diese inhaltliche Umgangsart mit Yogaübungen in über 40jähriger Forschungs- und Unterrichtstätigkeit detailliert ausgearbeitet und in umfangreicher Literatur interessierten Menschen zur Verfügung gestellt.

Einige Beispiele dafür möchte ich hier vorstellen:

Ausgehend von einem Inhalt – einer bestimmten Vorstellung zur Bewegung oder zum seelischen Bezug – formt der Übende den Körper, er setzt den Inhalt in die körperliche Form um.

Die Waage

Von der technischen Seite erfordert die Waage Geschicklichkeit und Gleichgewicht sowie Stabilität in Beinen, Hüften und Rumpf bei gleichzeitiger Leichtigkeit. Sie erfordert diese Eigenschaften und fördert sie zugleich, weil der Übende sie aufbringen muss.
Bildlich gesehen zeigt die Waage die wie unendlich ausgleitende horizontale Bewegung. Dabei kann man auf das Verhältnis von Oberkörper und Beinen aufmerksam werden. Zunächst wird der Körper aufgerichtet, das Standbein stabil und ruhig ausgerichtet und dann das andere Bein aktiv angehoben und in die Horizontale nach hinten hinausgetragen. Der Oberkörper mit den Armen fügt sich nach vorne in die horizontale Linie ein und bleibt so leicht wie möglich. Aus der Mitte des Oberkörpers strebt die Bewegung in beide Richtungen nach vorne über die Finger, nach hinten über den Fuß hinaus, ohne in eine starre Fixierung zu kommen.

Inhalt körperlich: Bein sehr aktiv nach hinten hinausgetragen – Oberkörper und Arme so leicht wie möglich

Inhalt seelisch: die unendliche horizontale Linie, in die sich der Körper spannkräftig und leicht einfügt

Das Dreieck

Das Dreieck ist eine Seitwärtsbeuge, bei der die Flanken ausgedehnt werden. Das Erleben von Weite prägt diese Bewegung. Die sorgfältige Gliederung in Entspannung im Schulter-Armbereich, Dynamik aus der Mitte des Oberkörpers und ruhigen Stand ist eine wichtige Grundlage für das Erleben von Weite. Ausgehend von dieser Grundordnung lenkt der Übende seine Aufmerksamkeit auf den weiten,
umliegenden Raum und wie motiviert aus diesem Raum trägt er den Oberkörper mit den Armen hinaus in diese Weite. Auch der Brustkorb und Atemraum weiten sich.
Das Dreieck drückt das seelische Grundbedürfnis nach Aktivität und Beziehungsaufnahme nach außen aus und schenkt von diesem Aspekt aus gesehen Zuversicht und Mut zu Handlungen.

Inhalt körperlich: Gliederung in drei Bereiche und Wahrnehmung zum Raum

Inhalt seelisch: die Weite als Ergebnis der nach außen gerichteten Aktivität und Beziehungsaufnahme

Der Baum

Der Baum ist eine Gleichgewichtsstellung, die Ruhe und Sammlung fördert.
Schon die Form der Übung zeigt sich ganz anders als das Dreieck: Das Dreieck drückt die Weite der Aktivität aus und der Baum die Sammlung zur Herzmitte.
Eine Eigenschaft des Herzzentrums ist beispielsweise die hohe Aktivität, ein Gleichgewicht zwischen inneren Gefühlen und äußeren Notwendigkeiten herzustellen. Ausgehend von diesem inhaltlichen Zusammenhang kann beim Baum die Aufmerksamkeit sowohl in den umliegenden Raum als auch auf die Mitte beim Herzen gehalten werden. Während der Körper in wacher Balance ruht, bleibt die Aufmerksamkeit an diesen beiden „Orten“: außen im umgebenden Raum und innen im Zentrum, verbunden mit der Vorstellung, dass sich damit eine seelische Gesetzmäßigkeit ausdrückt: Das entwickelte Herzzentrum ermöglicht das Gleichgewicht zwischen diesen beiden gegensätzlichen Welten, die im Alltag oft nicht ganz einfach in Übereinstimmung zu bringen sind.

Inhalt körperlich: aufgerichtet, wach nach außen, Herzbereich als Mitte durch die Handgeste

Inhalt seelisch: das Herzzentrum als Ort des Gleichgewichts zwischen inneren Gefühlen und äußeren Notwendigkeiten

Der Schulterstand

Im Schulterstand fließt die Bewegung aus dem Herzbereich und einer Zentrierung in der oberen Brustwirbelsäule in die Beine nach oben. Kopf, Nacken, Schultern und Oberarme bilden die entspannte Basis für die aus dem Herzen hochfließende sanfte Dynamik. Die Augen bleiben offen und schauen der Bewegung nach oben nach.
Es ist eine dynamisch-leichte Bewegung, die nicht sportlich streng und formbetont, sondern wie hochbalancierend aufgebaut wird. Sie drückt das Fließen der Lebenskräfte aus, wie bei einer Pflanze, die sich entgegen der Schwerkraft mühelos aufrichtet und auf leichte, schwebende Weise ihre Blüte nach oben trägt.

Inhalt körperlich: Brust-/Herzregion bildet die Mitte, aus der die Bewegung nach oben fließt

Inhalt seelisch: das Fließen der Lebenskräfte

Die Kopf-Knie-Stellung

Die Kopf-Knie-Stellung wird aus einem gegliederten Willenseinsatz entwickelt. Nicht mit einem pauschalen, kompakten Gesamtkörpereinsatz beugt man sich nach vorne, sondern die dynamische Längsausdehnung wird ganz gezielt aus dem Sonnengeflecht (Körpermitte, 10.-12. Brustwirbel) bei gleichzeitig gelöster Schulterpartie und frei gehaltenem Kopf freigesetzt. Man drückt den Oberkörper nicht einfach nach unten, sondern hebt ihn weit nach vorne über die Beine hinaus. Auch hier spielt die Wahrnehmung zum Raum eine große Rolle: Wenn die Aufmerksamkeit in der freieren Sphäre des Raumes ist und die Rückenmitte als Zentrum der Bewegung bewusst bleibt, kann für Momente der Körper ein wenig losgelassen werden, sich die Kraftfülle im Zentrum sammeln und daraus richtig einsatzfreudig ergriffen und geformt werden.

Inhalt körperlich: Spannkraft + Längsstreckung aus dem Sonnengeflecht bei entspannter Schulterregion

Inhalt seelisch: gegliederter Willenseinsatz führt zu einem freieren Erleben und Einsatzfreude

Die gedrehte Kopf-Knie-Stellung

In der gedrehten Kopf-Knie-Stellung verlässt der Übende die nach unten, zum Körper gerichtete Form und öffnet sich mit einem sensiblen Erleben nach außen.
In der klassischen Kopf-Knie-Stellung drückt sich das aktive Hingewendetsein zum Körper aus, während in der gedrehten Variante mehr die Sensibilität der nach außen orientierten Wahrnehmung zum Ausdruck kommt. Sehr zentriert aus der Mitte der Wirbelsäule erfolgt die Drehung in die seitliche Öffnung. Dabei ist aber sehr wichtig, dass ein Langwerden nach oben hin bis zu den Schlüsselbeinen und weiter bis zum Scheitel herbeigeführt wird.

Inhalt körperlich: zentrierter Bewegungsansatz aus der Rückenmitte und Aufrichten zu den Schlüsselbeinen

Inhalt seelisch: sensibles, empfängliches Erleben nach außen

Sein oder Haben?

Es ist ein großer Unterschied, ob eine Übung aktiv, innerlich beteiligt mit Vorstellungen, forschenden Beobachtungen und Zielstrebigkeit gestaltet wird oder passiv, nachahmend, abwartend und somit mehr konsumierend vor sich geht.

Die Unterscheidung von Erich Fromm im Sinne von Haben und Sein ist dabei auch sehr interessant. Man kann mehr in der Haben-Form praktizieren oder mehr im Sinne des Seins.

Auch in der Bhagavad Gita erscheint eine ähnliche Gliederung von sat (Sein) und asat (Nichtsein), die ebenso im Vergleich zu den Übungsbeispielen ergründet werden kann.

Die gestaltende Aktivität ist wahrnehmend mit Einsatz des Bewusstseins und formt sich aus einer lebendigen Beziehungsaufnahme zur Sache. Sie erfordert nicht nur alleine eine körperliche, sondern vor allem eine mentale, denkende und empfindende Eigenaktivität. Sie bringt langfristig eine Stärkung in der Persönlichkeit und eine stille erfüllte Freude mit sich.

Das gestaltende Prinzip geht von einer Idee, also einer geistigen Vorstellung, aus und wird mit dem Körper zu einem sichtbaren Ausdruck geführt, so dass etwas Neues hinzukommt. Man übt nicht in Abhängigkeit zu den schon angesammelten Erfahrungen oder momentanen Gemütsstimmungen, sondern aus dem Objektbezug. Die Kraft zu Selbstaktivität, Selbstbestimmung, Führung der Umstände, etc wird damit angeregt.

Üblicherweise denkt man eine Yogapraxis umgekehrt, in dem Sinn, dass von der Übung ausgehend der Körper und in weiterer Folge Seele und Geist günstig angesprochen werden. In dieser hier beschriebenen Weise geht sie vom Geist aus und entwickelt sich über die Seelenaktivität zum körperlichen Endergebnis.

Was ist der Wert?

Mit der kreativen, von ausgewählten Inhalten ausgehenden Übungsweise ist ein großer Wert für die körperliche und psychische Gesundheit und die Entwicklung der Seelenkräfte verbunden. Es können auch die soziale Kompetenz und ein Verständnis für universale Zusammenhänge reifen.

Die weiteren Auswirkungen näher zu beschreiben, würde für diese Übersicht zu lang, und ausserdem bin ich selbst immer noch dabei, die Dinge zu erforschen und Stück für Stück zu durchschauen. Aber ich würde mich freuen, wenn das bisher Beschriebene Sie ein wenig inspiriert, selbst weiterzudenken und bestehende Zusammenhänge zu entdecken.

Lesetipp: Die Seelendimension des Yoga, Heinz Grill, Stephan Wunderlich Verlag

Petra Himmel
Oktober 2024

www.yogapetra.net 

Gedrehte Kopf-Knie-Stellung,
abgezeichnet aus dem Buch Die Seelendimension des Yoga